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ALEXANDER KANZEDIKAS

EIN UNBEKANNTES BILD VON LISSITZKY

Exhibition Die Grosse Utopie. Die Russische Avantgarde 1915-1932. Frankfurt: Schirn Kunsthalle, 1992.

          Die großen Lissitzky-Retrospektiven der letzten Jahre ha­ben das Interesse der Kunstwelt für diesen Maler deutlich verstärkt. Aber wirklich neue Erkenntnisse über den komplexen Werdegang des Künstlers wurden kaum vermittelt, insbesondere was die einzelnen Schaffensperioden betrifft. Ein neu aufgefundenes Bild drängt jetzt eine Neubewertung des Gesamtwerkes auf. Die ungegen­ständliche Komposition, spätestens im Sommer 1919 in Kiew gemalt und in den Depots des dortigen Museums der ukrainischen Kunst aufbewahrt, wird hier erstmals publiziert (Kat. 197), dank der freundlichen Erlaubnis der Mitarbeiter des Museums und des bekannten Kenners der ukrainischen Avantgarde, Dmitrij Gorbatschow, der das Bild in den Depots entdeckt hat.

          Bis heute wird angenommen, daß Lissitzky sich erst im Winter 1919/20 der Abstraktion zugewandt habe, in der Phase der Zusammenarbeit mit Malewitsch, deren Resultat die berühmten Projekte der Bestätigung des Neuen, die Prounen, waren. Bekanntlich kam Malewitsch auf Einladung Lissitzkys, der seinerseits von Chagall eingeladen worden war, nach Witebsk, um an Chagalls Kunstschule zu unterrichten. Lissitzky war Anfang Herbst 1919 von Kiew nach Witebsk übergesiedelt und wurde kurz danach von Chagall in offizieller Mission nach Moskau geschickt. Dort bedrängte er Malewitsch aufs energischste, nach Witebsk zu kommen, wo eine auf neue Tendenzen gespannte junge Schülerschaft den Meister des Suprematis­mus ungeduldig erwarte und die Versorgungslage leichter sei als in der Hauptstadt. Malewitsch kam nach Witebsk, entfesselte dort eine hektische Aktivität, die sofort zu einem heftigen Streit mit Chagall führte, den Malewitsch nicht ohne Mitwirkung Lissitzkys mit Leichtigkeit für sich entschied. Dieser Krach gab später den Anlaß, Lissitzky des Verrats und der Verleumdung zu bezichtigen.

          Demgegenüber ist zu wenig bekannt, daß Lissitzky sich schon in Deutschland für die neuen Tendenzen in der europäischen Moderne engagierte und, nach seiner Rückkehr nach Rußland, einen Buchumschlag für einen Lyrikband des einzigartigen Dichters Konstantin Bolscha- kow und andere Werke dieser Art in futuristischem Stil schuf. Er lehnte sich eng an Künstler der neuen Linken an, wie an den Kiewer Kreis um Alexandra Exter, der führenden Konstruktivistin. Ihr Einfluß wird beispielsweise beim Umschlag für «Chad Gadya» deutlich, der im Ge­gensatz zu den Illustrationen des Buches selber von ab­strakten Formen beherrscht wird. Am deutlichsten wird Lissitzkys Hinwendung zur Abstraktion in der wiederent­deckten Komposition des Kunstmuseums von Kiew.

          Natürlich galt in jenen Jahren ein Hauptinteresse Lissitzkys auch dem jüdischen Kulturkreis. Er illustrierte hebräi­sche Texte, nahm an den Veranstaltungen jüdischer Kulturorganisationen aktiv teil und bereitete Ausstellungen jüdischer Künstler vor. Die Bandbreite dieses Engagements für die jüdische Kultur reichte von der Beteiligung an ethnographischen Exkursionen zu abgelegenen kleinen Ortschaften in Weißrußland und Lettland bis zur Gestaltung der heute so berühmten Bücher wie «Die Legende von Prag» und des schon erwähnten «Chad Gadya». 1918 schloß sich Lissitzky überdies in Kiew sogleich der Kulturliga an, der jüdischen Organisation, die die wichtigsten Kräfte der jüdischen Nationalkunst in sich vereinigte. Als einer der führenden Repräsentanten der traditionellen jüdischen Kunst in Rußland wurde er denn auch von Chagall nach Witebsk berufen.

          Demgegenüber ist die Kiewer Komposition ein uneinge­schränkt abstrakt-konstruktivistisches Werk, bei dem Lis­sitzkys Leidenschaft für das Jüdische nur noch in einem Aspekt, in der Collage eines hebräischen Textfragments im Zentrum des Bildes, in Erscheinung tritt. Lissitzkys Weg zur Abstraktion hat in der Zusammenarbeit mit Male­witsch in Witebsk also nicht begonnen, sondern seinen Abschluß gefunden. Die Wiederentdeckung des Bildes aus Kiew macht verständlich, weshalb Lissitzky Malewitsch so energisch zum Umzug nach Witebsk überredete und weshalb er sich in der Auseinandersetzung mit Chagall auf Malewitschs Seite schlagen mußte. Dies war nicht Verrat, sondern im Gegenteil Treue zu den eigenen künstlerischen Überzeugungen.

Exhibition Die Grosse Utopie. Die Russische Avantgarde 1915-1932. Frankfurt: Schirn Kunsthalle, 1992.

 

El LISSITZKY (1890-1941). Abstract Composition. 1919. Oil on canvas. 71 by 58 cm. National Art Museum of Ukraine. Kyiv.

El LISSITZKY (1890-1941). Abstract Composition. 1919. Oil on canvas. Oil on canvas. 71x58 cm. National Art Museum of Ukraine (NAMU), Kyiv.

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